Weltweite Corona-Krise: Neu, aber nicht beispiellos
Tolle Artikel wie ich finde. Die sollten zum Nachdenken und umdenken anregen. Der Mensch ist selbstverantwortlich für Pandemien und Epidemien: Menschen dringen durch Rodung immer weiter in Urwälder vor, holzen Sie ab. Exotische Tiere werden rücksichtslos verspeist und auf märkten gehandelt. Nicht nur die Wirtschaft ist rücksichtslos auch die Luftfahrtbranche, maximaler Profit ging über alles, so lange man im nationalen und internationalen Luftverkehr konnte.
Corona-Lehre: Auf die Wissenschaftler hören!
Seit der Coronavirus-Krise sind Wissenschaftler gefragte Interviewpartner. Wir erwarten Hilfe von ihnen, Lösungen des Problems. Aber sind wir bereit, den Empfehlungen der Wissenschaftler zu folgen? Klimaforscher würden hier mit einem lauten „Nein“ antworten.
Ein Kommentar von „Spiegel“-Redakteurin Annette BruhnsWir sind zerbrechlicher, als wir dachten, meint „Spiegel“-Redakteurin Annette Bruhns.
Schon mal etwas vom West-Nil-Fieber gehört? Eine Stechmücke überträgt das Virus. Es befällt hauptsächlich Vögel, aber auch Säugetiere. Bei Menschen verläuft die Krankheit zu 80 Prozent beschwerdefrei. Jeder fünfte Infizierte entwickelt grippeähnliche Symptome, ein Prozent erkrankt schwer. Bei ihnen kann West-Nil-Fieber sogar tödlich enden.
Das Coronavirus ist uns auf die Pelle gerückt
Sind Sie noch da? Vor ein paar Wochen noch hätten Sie jetzt wohl abgeschaltet. Ein tropisches Virus mit verschwindend geringer Mortalität – was ging uns das schon an? Selbst als China im Januar die Millionenstadt Wuhan absperrte, hielten wir Seuchen aller Art für sehr ferne, um nicht zu sagen mittelalterliche Gefahren.
Jetzt ist uns Corona auf die Pelle gerückt. Das Virus ist nicht mehr in China, Iran, Italien – sondern im Johanneum-Gymnasium in Lüneburg oder im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Johannes B. Kerner und Friedrich Merz sind infiziert, die Mutter einer lieben Freundin liegt danieder. Völlig unbemerkt von den meisten ist auch das West-Nil-Virus weltweit auf dem Vormarsch. Sogar in Deutschland infizieren sich inzwischen Menschen mit dem Fieber, gegen das es keine Impfung gibt. Ein Grund dafür: die Erderwärmung. Ein weiterer, vermuteter Grund: Gen-Mutationen. Ein dritter: die Globalisierung.
Auch andere tropische Viren verbreiten sich
Den Sprung über den Atlantik schaffte das West-Nil-Virus wahrscheinlich über in die USA eingeschmuggelte tropische Vögel. 1999 kam es zum großen Vogelsterben in einem New Yorker Zoo. Anwohner bekamen Fieber, sieben Menschen starben. Inzwischen infizieren sich alljährlich Hunderttausende, schätzen Ärzte, der Großteil von ihnen freilich unbemerkt. Für 167 Betroffene in den USA endete die Infektion vorletztes Jahr indes tödlich. Auch unter Griechen, Italienern und Rumänen wütet das Vogelvirus. Im Jahr 2018 wurden europaweit 180 Todesfälle durch West-Nil-Fieber registriert.
Nicht nur Klimaforscher halten die steigenden Temperaturen für eine Ursache der hierzulande neuen Seuche. Vor einem halben Jahr schlugen Virologen vom Bernhard-Nocht-Institut Alarm. Von Stechmücken übertragene Krankheiten, forderten die Hamburger Forscher, müssten dringend auch nördlich der Alpen überwacht werden. Mit der Ankunft der Asiatischen Tigermücke in Bayern verbreiten sich neben dem West-Nil-Virus nämlich auch andere tropische Viren. Frankreich zum Beispiel hat schon Fälle von Zika gemeldet. Ein Zika-Ausbruch versetzte in Brasilien vor fünf Jahren Schwangere in Panik: Babys von Infizierten kamen missgebildet zur Welt.
Der Klimawandel nimmt Fahrt auf
Auf vielen Kontinenten ist die Lage längst viel fiebriger als bei uns. Der Klimawandel lässt nicht nur die Erde glühen, sondern dehnt die Verbreitungsgebiete vieler Erreger aus – etwa von Malaria, Denguefieber, Gelbfieber. Oder von Bilharziose, eine von Würmern übertragene Krankheit, die vor allem in Afrika in stehenden Gewässern lauert. Inzwischen bedroht sie immer mehr südostasiatische Reisbauern. Chinesische Forscher haben schon vorsorglich ausgerechnet, was der Klimawandel für die dortigen Nassreiskulturen bedeutet: Bei einer durchschnittlichen Erderwärmung von 1,6 Grad könnte sich die lebensgefährliche Wurmkrankheit auf acht Prozent des chinesischen Staatsgebiets ausdehnen.
Der Klimawandel nimmt Fahrt auf. Dieser auffallend milde Winter könnte in Norddeutschland sogar einen neuen Wärmerekord aufstellen. Und es wird so weitergehen, prophezeien Deutschlands staatliche Meteorologen: In den nächsten fünf Jahren erwartet uns demnach noch mehr Trockenheit. Bei der Bekanntgabe dieser Prognose am Dienstag klang Gerhard Adrian, Präsident des Deutschen Wetterdiensts, eher wie ein „Fridays-for-Future“-Aktivist. „Die Menschheit hat die Sturmglocken bisher noch nicht hören wollen“, sagte Adrian. Er warb dafür, jetzt endlich an den Stellschrauben für weniger Kohlendioxid-Emissionen zu drehen.
Forscher kennen auch Lösungen
Meine Hoffnung ist, dass wir aus Corona lernen. Dass wir endlich auf die Wissenschaftler hören. Denn die Forscher warnen ja nicht bloß, sie kennen auch Lösungen. Die Länder, die von Anfang an auf ihre Virologen gehört haben – allen voran Taiwan und seine rund 24 Millionen Einwohner -, werden aller Voraussicht nach die Pandemie am besten überstehen.
Eigentlich wissen wir doch alle, was zu tun ist. So, wie wir jetzt solidarisch zu Hause bleiben müssen, damit sich unsere Mütter und Väter nicht anstecken, genauso müssen wir solidarisch sein mit unseren Kindern. Und auch nach Corona weniger Auto fahren, weniger fliegen, weniger konsumieren. Ja, das sind schlechte Aussichten für unser Wirtschaftswachstum, unseren Wohlstand, unser gewohntes Lebensgefühl. Aber Vorsicht ist eben nicht nur die Mutter des Porzellans. Auch wir sind zerbrechlicher, als wir dachten.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
Quelle: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Kommentar-Die-Lehren-aus-der-Coronavirus-Krise,corona1192.html
Ist der Mensch lernfähig?
Ausgerechnet ein Tier, das wir fast ausgerottet haben, könnte der Überbringer der Corona Seuche sein. Das ist grausame Ironie – und ein Lehrstück über Ursache und Wirkung.
Gastbeitrag von Judith Schalansky
or vier Wochen stand ich lange vor einem Schaufenster in der Amsterdamer Nieuwe Spiegelstraat. Es gehörte einem Antiquitätenhaus, das sich auf den Handel mit Raritäten aus aller Welt, von Fernost bis Amerika, vor allem aber auf den mit präparierten Tieren spezialisiert hat. Zu sehen waren knochenbleiche Steinkorallen, ein Falke mit einer golden-purpurnen Haube, die mich an die Auslagen der Fetisch-Shops in der Berliner Motzstraße erinnerte, ein Litzaffenweibchen mit Sturmfrisur und Baby auf dem Rücken sowie ein viktorianischer gläserner Kasten mit 100 ausgestopften Kolibris, die, klein wie Schmetterlinge, in allen erdenklichen Farben schillernd, zu einem stummen Frühlingskonzert auf den Ästen versammelt saßen. Der Anblick war schwer auszuhalten, weil sich in die Schaulust das Gefühl der Verzweiflung darüber mischte, dass der Mensch fähig war, diese Schönheit selbst um den Preis des Todes zu bewahren.
Ich wollte mich gerade abwenden, als ich etwas abseits im Halbdunkeln ein etwa dackelgroßes Schuppentier entdeckte, das einen wie gedrechselt aussehenden Baumstamm hochkletterte. Seine verhornten Schuppen glänzten wie die von Fichtenzapfen und hatten die nachgedunkelte Farbe eines antiken Möbelstücks, seine Füße krallten sich in das Holz, sein rüsselartiger Mund war staunend geöffnet und die winzigen Knopfaugen fixierten einen fernen, unbestimmbaren Punkt.Aktuelles zum Coronavirus – zweimal täglich per Mail oder Push-Nachricht
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Ich hatte den Vormittag über einige Interviews zu meinem Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ gegeben, die sich allesamt zu Gesprächen über den Tod, das Artensterben und den Sinn des Lebens auswuchsen.
Nachdem eine der Journalistinnen mir die Frage gestellt hatte, ob ich glaube, der Mensch sei lernfähig, sah ich hinter den bodentiefen Fenstern des mit Stofftapeten bezogenen Grachtensaals des Goethe-Instituts hinaus auf das Wasser, wo gerade eine große Raubmöwe immer wieder ihren Schnabel in ein Stück Styropor hackte. Ist der Mensch lernfähig, fragte ich mich jetzt, als ich auf das Schild unterhalb des Schuppentiers blickte. Dort war zu lesen, dass das Tier aus den afrikanischen Regenwäldern und das Objekt, zu dem es nach seinem gewaltsamen Tod und seiner feinfühligen Präparation geworden war, aus einer belgischen Privatsammlung stammte.
Was auf einem chinesischen Markt gehandelt wird, geht die ganze Welt an
Mir fielen die Lesereisen ein, die mich im Frühjahr zum ersten Mal nach Turin, Bologna und Tokio führen sollten. Die Reise nach Peking und Shanghai waren ein paar Tage zuvor abgesagt worden. „Es ist sicherer, wenn Sie zu Hause bleiben“, hatte mir die Veranstalterin geschrieben. Vier Wochen später gilt dieser Ratschlag für die ganze westliche Welt.
„In China ist ein Sack Reis umgefallen“ ist ein geläufiger Ausdruck für ein unwichtiges Ereignis. In der kurzgeschlossenen Welt gilt er nicht länger. Ob in britischen Ställen BSE auslösendes Fleischmehl an Rinder verfüttert wird oder auf einem fernöstlichen Markt eine Kobra oder eine Fledermaus geschlachtet wird, ist sehr wohl für die Menschheit der ganzen Welt von Bedeutung. Letztere Tiere galten als die ersten Verdächtigen für den Ursprung des aus dem Tierreich stammenden Virus, zumal Fledermäuse eine ganze Reihe von Coronaviren beherbergen, ohne dass dies ihre Gesundheit beeinträchtigen würde. Mittlerweile vermutet man, dass ausgerechnet ein Malaiisches Schuppentier jener Zwischenwirt gewesen ist, der das zu SARS-CoV-2 mutierte Coronavirus auf Menschen übertragen haben muss. Es stammt nicht, wie jenes, das ich im Schaufenster sah, aus Zentralafrika, sondern aus den südostasiatischen Regenwäldern, wo es niemals hätte gefangen genommen werden, so wie es auf keinem Markt der Welt hätte feilgeboten werden dürfen, da jeglicher Handel mit diesen Tieren oder deren Körperteilen verboten ist. Denn die einzelgängerisch und nachtaktiv lebenden Insektenfresser sind vom Menschen so stark bejagt, dass viele Populationen zusammengebrochen sind, und niemand weiß, wie viele Individuen der acht vom Aussterben bedrohten Unterarten überhaupt noch existieren. Schuppentiere sind die am häufigsten illegal gehandelten Säugetiere weltweit. Allein im Jahr 2018 wurden 62 Tonnen geschmuggelte Schuppen sichergestellt. Dementsprechend hoch sind die Schwarzmarktpreise, da ihr Fleisch als Delikatesse und ihre Schuppen in der traditionellen chinesischen Medizin als Wundermittel gelten.
Es bedarf keiner ausgeprägten Neigung zum schwarzen Humor, um die grausame Ironie wahrzunehmen, die darin liegt, dass ausgerechnet ein scheues, wehrloses Säugetier, das durch menschliche Bejagung kurz vor seiner Auslöschung steht, Überbringer einer Seuche sein soll, die allein bisher Zehntausende von Toten gefordert hat und etwa ein Viertel der Weltbevölkerung in die eigenen vier Wände verbannt.
Es ist lebensnotwendig, die ganze Welt als Organismus zu begreifen
Es erinnert uns daran, dass auch wir verwundbar sind, ein Säugetier, das mit seinen acht Milliarden Exemplaren für ein Virus nichts anderes ist als ein weiterer, idealer Wirt. Bei drohender Gefahr rollt sich das Schuppentier ein. Nichts anderes tun wir gerade. In diesen Wochen wird klar, dass die größere Herausforderung des Lebens darin besteht, die Welt nicht zu erobern, sondern verdammt nochmal zu Hause zu bleiben, vorausgesetzt natürlich man hat eins.
Sicherlich liegt es daran, dass ich in der DDR geboren bin, dass mir leere Supermarktregale, rationierte Lebensmittel, lange Schlangen und geschlossene Grenzen ebenso vertraut sind wie die aktuelle Erfahrung, dass sich beinahe über Nacht alles ändern kann, dass es möglich ist, Geschäfte, Schulen und Zoologische Gärten zu schließen, die Olympischen Spiele ebenso in eine vage Zukunft zu verschieben wie den wöchentlichen Töpferkurs meiner Mutter, und dass die Zeitungen auf einmal titeln: „Afrika schottet sich von Europa ab.“
Als Kind träumte ich immer davon, einmal bei meinen Großeltern eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten zu werden, damit wir endlich die vielen Vorräte, die sie angehäuft hatten, aufessen würden. Die Erfahrung des Krieges hatte bei ihnen dafür gesorgt, von allem, was es zu kaufen gab, so viel zu bunkern, wie nur in den Kühlschrank, in den Keller und in die Hohlräume der Sitzgarnitur auf der Veranda passte. Dort stapelten sich die Konserven mit Pfirsichen und Aprikosen, die nur zu Feiertagen geöffnet wurden. Leider schneiten wir nie ein, also blieben die Vorräte unberührt.
Diesen Winter hat es in Berlin gar nicht geschneit. Den Winter, so scheint es, gibt es nur noch in den Bergen, in Kinderbüchern und auf holländischen Gemälden. Vielleicht kehrt er wieder, wenn wir diese Zeit der Krise nicht nur als Verzicht und Verlust erleben. Die reine Luft über Wuhan und das klare Wasser Venedigs sind starke Bilder, die das der Styropor pickenden Möwe überlagern. Ist der Mensch lernfähig?
Ein Virus, das alle Menschen heimsuchen kann, lehrt uns einmal mehr, wie unerlässlich, ja lebensnotwendig es ist, die Welt als einen Organismus zu begreifen.
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-schuppentier-china-1.4862197
Aus früheren Pandemien gelernt?
Spanische Grippe, Asiatische Grippe, SARS – in den vergangenen 100 Jahren versetzten gleich mehrere Pandemien die Welt in Aufregung. Können die Lehren aus der Geschichte im Kampf gegen das Coronavirus helfen?
Von Gábor Paál, SWR
Die Spanische Grippe ist bis heute die größte Pandemie der Neuzeit. Weltweit starben rund 50 Millionen Menschen. Deshalb – und weil sie jetzt 100 Jahre zurück liegt – drängen sich Vergleiche auf: Gibt es Parallelen zwischen der heutigen Situation und damals?
Auf den ersten Blick kaum. Vielmehr fallen die Unterschiede auf: 1918 tobte der Erste Weltkrieg. Die Grippe traf somit auf eine Welt, die ohnehin geschwächt war. Sie breitete sich auch anders aus. Anders als ihr Name vermuten lässt, hat sie ihren Ursprung nicht in Spanien, sondern höchstwahrscheinlich in den USA. Soldaten brachten sie nach Europa, wo sie sich mit der Kriegsfront ausbreitete.
Die Grippe verlief auch anders: Die Inkubationszeit war deutlicher kürzer als beim neuartigen Coronavirus, und der Grippe fielen vor allem die 20- bis 40-Jährigen zum Opfer. Vor allem aber: Man wusste kaum etwas. Nicht einmal der Erreger war bekannt. Lange vermutete man ein Bakterium als Auslöser der Krankheit. Dass es Virus war, entdeckten Mediziner erst Jahre nach der Pandemie. Doch schon damals war bekannt: Die Krankheit ist ansteckend, sie überträgt sich durch Kontakte.
Spanische Grippe: Unterschiede bei der Eindämmung
Auch das Konzept der Quarantäne war keineswegs neu. Das Wort geht schließlich darauf zurück, dass Venedig während der Pest im 14. Jahrhundert die aus dem Osten ankommenden Handelsschiffe 40 (ital.: quaranta) Tage isolierte. Seitdem wurde es immer wieder eingesetzt, um die Ausbreitung von Epidemien wenn nicht zu verhindern, so doch zu verlangsamen.
Und deshalb lohnt sich der Vergleich mit der Spanischen Grippe doch. Denn heute ist klar: Damals waren die Länder zu zögerlich. „In Mannheim hat man 1918 überlegt, ob man die Kinos und Theater schließen lässt“, sagt der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart. „Man hat dann davon abgesehen mit der Begründung: ‚Die Leute müssen doch irgendwas haben, um sich zu belustigen. Der Krieg ist schon fürchterlich, und jetzt noch die Grippe, das können wir ihnen nicht auch noch nehmen.'“ Auch die Schulen traute man sich nicht zu schließen.
Aus dem mutmaßlichen Ursprungsland der Spanischen Grippe, den USA, gibt es einen eindrücklichen Beleg für die Wirksamkeit drastischer Maßnahmen. In Philadelphia fand zum Herbstbeginn noch eine große Militärparade statt. 200.000 Bürger und Armeeangehörige füllten die Straßen und Plätze. Drei Tage später waren die Krankenhäuser in Philadelphia überfüllt, innerhalb einer Woche starben fast 5000 Menschen.
Anders in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri. Zwei Tage nach dem Bekanntwerden der ersten Fälle schloss die Stadt Schulen, Kindergärten und Kirchen. Öffentliche Ansammlungen von mehr als 20 Personen wurden untersagt. Die Ausbreitung wurde dadurch zwar nicht verhindert, aber die Infektionsrate deutlich verlangsamt und die Zahl der Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl um die Hälfte reduziert. Dies ergab ein rückblickende Studie aus dem Jahr 2007 in der Fachzeitschrift PNAS.
Asiatische Grippe: Beschwichtigung kostete Zehntausende Leben
Wie wenig aus diesen Beispielen gelernt wurde, zeigte sich in den Jahren 1957/58. Damals grassierte die aus China stammende Asiatische Grippe, die zweitgrößte Pandemie des 20. Jahrhunderts nach der Spanischen Grippe. Sie erreichte im Frühsommer 1957 Deutschland. Im Archiv von Radio Bremen findet sich aus dieser Zeit ein Interview mit dem dortigen Gesundheitsamt. Der ärztliche Leiter erklärt, es sei „keinerlei Grund zur Unruhe“ gegeben. „Schon die Bezeichnung ‚Asiatische Grippe‘ halte ich für eine Dramatisierung.“
Die Beschwichtigungspolitik rächte sich. Vier Monate später sah die Lage nämlich schon ganz anders aus. Das belegt ein ausführlicher Hintergrundbericht, der damals im Süddeutschen Rundfunk lief, und den das SWR2 Archivradio kürzlich publizierte. Im Oktober 1957 waren die Infektionsraten mittlerweile in die Höhe geschossen, Ärzte und Krankenschwestern mit Hausbesuchen völlig überlastet.
Und die Präventionsmaßnahmen? Die Schulen blieben offen, der Unterricht fiel etwa in Heidelberg nur aus, wenn mehr als die Hälfte einer Klasse erkrankt war. Der Radiobericht gab auch Hinweise zur Vorbeugung: Nicht etwa Händewaschen wurde empfohlen, sondern das „Gurgeln mit Wassersuperoxid“ sowie das Einnehmen „formalinfreisetzender Tabletten“.
Angesichts dieser unzureichenden Maßnahmen hatte auch die Asiatische Grippe leichtes Spiel. Innerhalb eines Jahres starben in Deutschland daran geschätzt 30.000 Menschen. Erstaunlicherweise findet sich aus dieser Zeit in den deutschen Rundfunkarchiven nur eine Handvoll Hörfunkberichte zum Thema. Die reinen Nachrichtensendungen wurden damals allerdings auch kaum archiviert.
Coronavirus: Pandemiepläne greifen
Der große Unterschied zu heute ist: Das Virus ist bekannt. Es gibt Pandemiepläne, die jetzt greifen – und auf die Besonderheiten des neuen Virus angepasst werden. Es gibt einen Test, wenn er auch nur in begrenztem Umfang zur Verfügung steht. Es gibt die Grundlage für Impfstoffe. Denn seit der SARS-Epidemie 2003 ist klar, dass sich jederzeit ein neues, modifiziertes Virus entwickeln kann. So steht es auch in einer Risikoanalyse der Bundesregierung von 2012.
Manche Nutzer in den sozialen Medien schließen aus diesem Bericht, die Regierung sei gewarnt gewesen und habe nichts unternommen. Tatsächlich aber folgen die jetzigen Maßnahmen ziemlich genau den Plänen, die seit Jahren in den Schubladen liegen. In der Risikoanalyse lautete die Empfehlung: „Die antiepidemischen Maßnahmen beginnen, nachdem zehn Patienten in Deutschland an der Infektion verstorben sind. Die Anordnung der Maßnahmen geschieht in den Regionen zuerst, in denen sich Fälle ereignen.“
Gemessen daran setzten die ersten Maßnahmen sogar früh ein: Denn den zehnten Corona-Todesfall verzeichnete Deutschland am Sonntag. Es scheint: Inzwischen sind die Lehren aus den früheren Pandemien hierzulande durchaus angekommen.
Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/pandemien-historisch-corona-101.html