Meinung:Verfassungsänderung in Russland – Ein Verbrechen vor aller Augen

An diesem 1. Juli bekommt Russland einen Präsidenten auf Lebenszeit. Und das ist allen Russen klar. Ob sie wollen oder nicht. Denn das, was eine Volksabstimmung sein sollte, ist zum unverblümten Betrug geworden.

Verfassung der Russischen Föderation

uf Parkbänken, Bushaltestellen und Baumstümpfen – ja, richtig gelesen: Baumstümpfen! – so stimmen die Russen über die größte Verfassungsänderung in der neueren russischen Geschichte ab. Aber für dir größte Scharade in der neueren russischen Geschichte ist es eine passende Kulisse.

Ich glaube den Menschen in dem Land ist nicht klar wo für sie da wählen. Nachher beschweren sich dann alle über Zensur im Netz oder dass das russische Internet vom World Wide Web getrennt wird.

Andere Gesetze würden so zur offiziellen Verfassung, die in der Vergangenheit „den Sicherheitsdiensten einen einfachen Zugang zu Benutzerdaten, Internetnutzung und Nachrichten ermöglichten“. Unter dem Vorwand der „Gewährleistung der Online-Sicherheit für Einzelpersonen, Gesellschaft und Staat“ bekäme Putins Elite die Macht, „Inhalte direkt zu zensieren oder sogar das russische Internet vom World Wide Web zu trennen, ohne in der Öffentlichkeit zu sagen, dass sie es tun oder warum“.

Christian Dauck

Tatsächlich ging es nie um etwas anderes als den Erhalt von Wladimir Putin an der Macht. Und Putin wird bekommen, was er will. Bis ins Jahr 2036 wird ihm sein Thron gewiss sein. Man kann getrost sagen, bis an sein Lebensende. Das Ergebnis der angeblichen Volksabstimmung stand seit jeher fest. Wenn am Abend die Details verkündet werden, wird sich Putin über abstrus hohe Zustimmungsraten freuen. Oder genauer gesagt über abstrus hohe Zustimmungsraten für die Änderung von 22 Artikeln der russischen Verfassung. Diese sehen etwa vor, dass der russische Präsident in Zukunft selbst den Generalstaatsanwalt ernennt, den Ministerpräsidenten einfach von seinem Posten entfernen oder Richter entlassen kann. 

Bis zum Schluss versuchte Putin seinem Volk einen Bären aufzubinden. Es gehe bei dem ganzen Zirkus gar nicht um ihn, sondern den Schutz der russischen Sprache, die Bewahrung des orthodoxen Glaubens oder die Festlegung einer lächerlichen Minimalrente. Nur mit diesen Änderungen sei Russland eine blühende Zukunft in nie gekanntem Wohlstand gewiss, so die immerwährende Propaganda.

Putin macht das Volk zum Mittäter

Die Lügen sind so unverfroren, so plump, so durchschaubar, dass man zwangsläufig zu einer Schlussfolgerung kommt: Entweder hält Putin seine 144 Millionen Untertanen für vollkommene Idioten oder er pfeift auf sein Volk. 

Die Russen sind von ihren Mächtigen schon vieles gewohnt. Doch das, was in diesem Sommer geschieht, ist ein Verbrechen, das vor aller Augen begangen wird. Und das Volk wird zum Mittäter gemacht. Die Bürger sollen mit ihren eigenen Händen die Verfassung zerlegen, damit Putin seine Hände in Unschuld baden kann.

Er, der bereits vier Mal einen Amtseid auf die Verfassung abgelegt hat, will sich hinter einem vermeintlichen Volkswillen verstecken. Tatsächlich interessiert ihn nichts weniger. Putins neues Grundgesetz beerdigt alle demokratischen Werte. Ausgerechnet diejenigen, deren Rechte er beschneidet, sollen aber seiner Scharade einen Anstrich von Legitimität verleihen. 

„Alle vorgeschlagenen Verbesserungen der Verfassung werden nur in Kraft treten, wenn Sie diese billigen“, mit diesen Worten wandte sich Putin noch am Dienstag an die Nation. Der Gipfel des Hohns. Denn die Änderungen sind längst beschlossenen – nicht nur weil der Kreml bestimmen wird, wie die Ergebnisse der Abstimmung ausfallen, sondern weil die Duma sie längt ratifiziert hat. Nach geltendem Gesetz ist dies die einzige Instanz, die über Verfassungsänderungen entscheiden kann. Ein Referendum ist per se in dieser Angelegenheit illegal – selbst wenn dieses nach allen Regeln der Kunst durchgeführt werden würde.

Der Kreml bemüht sich aber nicht einmal, den Anschein eines regelkonformen Referendums aufrecht zu erhalten: Die Wahlurnen in Autokofferräumen sind Zeugen.

Letztendlich bekommen die Russen einen Wahlzettel in die Hand gedrückt. Eine einzige Frage ist darauf zu finden: „Sind Sie für die Verbesserungen der Verfassung?“ Genauso hätte Putin jedem Bürger ins Gesicht spucken und dabei lachen können. Würde ein echtes Referendum stattfinden, dann müssten die Wähler über jeden einzelnen Artikel, der geändert wird, abstimmen. So will es das Gesetz. So will es die Verfassung. So will es auch das Volk. Aber es findet kein Referendum statt, sondern ein grandioser Betrug. Und der Betrüger wird nicht einmal rot.

https://www.stern.de/politik/ausland/verfassungsaenderung-in-russland–wladimir-putin-spuckt-seinem-volk-ins-gesicht–9319908.html


OPPOSITION UND MENSCHENRECHTLER SCHLAGEN ALARM

Nach fast 20 Jahren im Amt (16 davon als Präsident) hat seine Regierung einen neuen Plan erdacht, wie der heute 67-Jährige theoretisch bis 2036 weiter regieren könnte. Eine neue Verfassung, entscheidend ausgefertigt in Putins Präsidialverwaltung, die nicht nur die Amtszeiten des Präsidenten neu starten, sondern dem herrschenden Regime auch neue, weitreichende Befugnisse geben würde.

Der eigentliche Termin des Referendums über die neue Verfassung ist zwar erst der 1. Juli, doch die Abstimmung wurde wegen der Corona-Pandemie auf mehrere Tage gestreckt. Dadurch soll zu großer Andrang in den Abstimmungslokalen vermieden werden. Kritiker sagen: Das Regime kann so bei ungewünschten Entwicklungen gegensteuern. Denn: Laut der jüngsten Umfrage befürworten nur 44 Prozent der Russen die weitreichenden Änderungen der Verfassung.

Menschenrechtler und russische Oppositionelle sind schockiert über die Abstimmung und deren mögliche schwerwiegenden Konsequenzen für die nächsten Jahrzehnte.

Human-Rights-Watch-Leiterin in Moskau warnt vor den Folgen

Tanya Lokshina ist Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) für Europa und Zentralasien mit Sitz in Moskau. Sie sagte zu BILD: „Es geht um über 200 Änderungsanträge, die vom Parlament verabschiedet wurden, und selbst jetzt, wo die Öffentlichkeit darüber abstimmt, haben sie nur sehr wenige Menschen genau gelesen, geschweige denn verstanden, zu welchen Änderungen sie führen werden.“

Einige der 206 Änderungen seien rechtsneutral, andere seien „positiv und sehr beliebt in der Öffentlichkeit“, wie die Garantie eines Mindestlohns, der den Lebenshaltungskosten entsprechen soll, eine jährliche Angleichung der Renten und Sozialleistungen sowie das Recht auf eine Krankenversicherung. Diese Änderungen würden besonders stark beworben.

ABER: Andere geplante Verfassungsänderungen, über die ab heute auch abgestimmt wird, seien „ein sehr schwerer Schlag für die Menschenrechte“ in Russland.

Dazu gehöre eine Änderung, die ein Gesetz von 2015 in die Verfassung aufnehme, wonach das höchste russische Gericht entscheiden könne, ob Russland Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Vereinten Nationen oder des Internationalen Gerichtshofs umsetzen müsse oder nicht. „Dieser Änderungsantrag hat bereits zu heftiger Kritik durch die Venedig-Kommission geführt, die die Aufgabe hat, die Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten des Europarates aus menschenrechtlicher Sicht zu bewerten“, so Lokshina zu BILD.

Andere Gesetze würden so zur offiziellen Verfassung, die in der Vergangenheit „den Sicherheitsdiensten einen einfachen Zugang zu Benutzerdaten, Internetnutzung und Nachrichten ermöglichten“. Unter dem Vorwand der „Gewährleistung der Online-Sicherheit für Einzelpersonen, Gesellschaft und Staat“ bekäme Putins Elite die Macht, „Inhalte direkt zu zensieren oder sogar das russische Internet vom World Wide Web zu trennen, ohne in der Öffentlichkeit zu sagen, dass sie es tun oder warum“.

Auch „traditionelle Werte“ würden im Rahmen einer „geeinten Staatspolitik“ in die neue Verfassung aufgenommen. Dies könnte genutzt werden, so Lokshina zu BILD, „um den Rechten der Frauen weiter entgegenzuwirken, unter anderem, indem die Bemühungen um die Verabschiedung eines Gesetzes gegen häusliche Gewalt vereitelt werden“. Die Festschreibung der Ehe als Beziehung zwischen Mann und Frau verfestige zudem die 2013 erlassenen Gesetze gegen „homosexuelle Propaganda“.

Russischer Oppositionspolitiker: Verfassungsänderung ist Ablenkungsmanöver

Nicht weniger kritisch, aber aus anderen Gründen, sieht Leonid Wolkov die Verfassungsänderung in Russland. Der Stabschef von Kreml-Kritiker Alexei Nawalny sagte zu BILD, „sie nutzen 206 sinnlose Änderungen der Verfassung, für die einzig bedeutende“: Putins Chance, auch bei den Wahlen 2024 und 2030 anzutreten.

Einziges Ziel der Verfassungsänderung sei es, Putin in den nächsten vier Jahren nicht als „lahme Ente“ – Präsident, der nichts mehr zu gewinnen hat – dastehen zu lassen. „Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich 2024 wiedergewählt werden möchte. Aber er möchte diese Option offen halten, sonst wird ihn seine Elite bei der Frage von Nachfolge- und Übergangsproblemen nicht als ernsthaften Spieler betrachten“, so Wolkov zu BILD.

Abstimmung weder frei noch fair

In einem sind sich die Menschenrechtlerin und der Oppositionspolitiker einig: Der Kreml wird es nicht dem Zufall überlassen, wie die Abstimmung ausgeht – und das Ergebnis stehe bereits fest.

Tanya Lokshina von HRW sagte zu BILD: „Die Ja-Kampagne des Staates war sehr aggressiv und allgegenwärtig, während die Kritiker der Verfassungsreform wenig Gelegenheit hatten, der Öffentlichkeit ihre Position zu erklären, und ihre friedlichen Proteste wurden strafbar unterdrückt“.

Zudem habe es in den letzten Tagen viele glaubwürdige Berichte darüber gegeben, dass „Beschäftigte des öffentlichen Sektors, deren Gehälter vom Staat bezahlt werden, zur Abstimmung gezwungen werden – und über verstörende Unregelmäßigkeiten bei der Online-Abstimmung“ über die Verfassungsänderung.

Noch drastischer drückt es Leonid Wolkov aus, Kampagnen-Manager von Putins Erzfeind Alexei Nawalny:

Der Abstimmungsprozess ist weder frei noch fair. Nicht einmal nach russischen Maßstäben. Ehrlich gesagt, ist es überhaupt kein Prozess, es ist eine Sauerei. Es ist schwer, darüber ernsthaft zu diskutieren, denn die Abstimmung hat weder einen rechtlichen Rahmen noch ist es möglich, ihre Ergebnisse zu kontrollieren.